Samstag, 10. April 2010

"Ein Herrscher wollte Gott sehen"

Er befahl seinen Weisen, ihm diesen Wunsch zu erfüllen. Natürlich konnte das keiner. Man fürchtete die Strafen. Da kam ein Hirt und sagte: "Erlaube mir, König, deinen Wunsch zu erfüllen." "Gut", entgegnete der König, "aber bedenke, es geht um deinen Kopf."
Der Hirt zeigte dem König die Sonne. "Sieh hin", sagte er. Der König hob seine Augen. Aber der Glanz blendete ihn, und er schloss die Augen. "Willst du, dass ich erblinde?" fragte er den Hirten. "Aber König, das ist doch nur ein Ding in der Schöpfung, ein schwacher Abglanz der Größe Gottes. Wie willst du mit deinen schwachen, tränenden Augen Gott sehen? Suche ihn mit anderen Augen."
Der Einfall gefiel dem König. Er sagte:" Ich erkenne deinen Geist und sehe dir Größe deiner Seele. Antworte nun:" Was war vor Gott?" Nach einigem Nachdenken sagte der Hirt:"Sei nicht zornig wegen meiner Bitte, König, aber zähle!" Der König begann:" Eins, zwei..." "Nein", unterbrach ihn der Hirt, "nicht so, fange mit dem an, was vor eins kommt." "Wie kann ich denn? Vor eins gibt es doch nichts." "Sehr weise, Herr. Auch vor Gott gibt es nichts."
Diese Antwort gefiel dem König noch besser als die vorhergehende. "Ich werde dich reich beschenken. Vorher aber antworte noch auf die dritte Frage: Was macht Gott?" "Gut", sagte der Hirt, "auch darauf will ich antworten. Nur um eines bitte ich dich: Lass uns die Kleider für eine kurze Zeit tauschen." Das taten sie. Und der Hirt sagte:" Das macht Gott: Er steigt vom Thron seiner Erhabenheit und wird einer von uns. Er gibt uns, was er hat und nimmt das an, was wir haben und sind."

-Nach Leo Tolstoi-